The Cassette Underground
Kulturen alternativer Distribution in NRW archivieren, 1970er bis 1990er
Datum
15.12.2021 - 30.06.2022Auch wenn die Kompaktkassette heute überwiegend als nostalgisches Medium geschätzt wird, hat sie die Produktion, Distribution und den Konsum zeitgenössischer Musik und visueller Kultur nachhaltig geprägt. Seit Ende der 1970er bis Mitte der 1990er Jahre ermöglichte das preiswerte, mobile und langlebige Medium auch Nutzer*innen mit geringen finanziellen Mitteln und ohne besondere technische Fähigkeiten oder spezifische Kenntnisse eigene Musik aufzunehmen und zu verbreiten. Dies führte zu einer dauerhaften Demokratisierung der Musikindustrie und einer Ausbreitung marginaler Genres und Stile auf informellen Märkten.
Zu den wichtigsten Faktoren der Kassettenbewegung gehörte die Etablierung alternativer Vertriebssysteme durch lokale Subkulturen, dezentrale Netzwerke und alternative Kommunikationskanäle wie Fanzines und Radiosendungen. Jenseits der gängigen Mainstream-Distributionsmechanismen wurden neue Ansätze der Peer-to-Peer-Zirkulation wie etwa Mailorder- Systeme, persönlicher Tausch oder Direktverkauf durch Straßenhändler*innen aufgegriffen, sodass die Grenzen zwischen Produzent*innen, Distributor*innen und Konsument*innen verschwammen. In diesem Prozess entstanden nicht nur Schattenwirtschaften, sondern lebendige Gemeinschaften mit gemeinsamen Interessen für Klänge und Bilder, die dem Mainstream zu laut, zu fremd oder zu weit weg erschienen.
Vor diesem Hintergrund sollen die unterschiedlichen Strategien des sogenannten Kassetten-Untergrunds, die von bestimmten Gruppen erkannt und angewendet wurden – und die in diesem Prozess zu Gemeinschaften mit gemeinsamen Interessen gewachsen sind – aufgezeigt werden. Exemplarisch sollen drei unterschiedliche Gruppierungen der Untergrund- Kassettenkultur, die sich zwischen den 1970er und 1990er Jahren in NRW ausgebreitet haben, untersucht werden: die Punk-Community, die Gemeinschaft der türkischen Arbeitsmigrant*innen und der bildenden Künstler*innen.
Private und öffentliche Musiksammlungen, Fanzines und andere alternative Publikationen sowie Zeitzeug*innen sollen die Grundlage bilden, um zu verstehen, wie sich diese alternativen Kulturen der Musikproduktion, -distribution und des Konsums im Laufe der Jahrzehnte entwickelt haben und inwiefern diese Beispiele des Kassetten-Untergrunds Aufschluss über die Strukturen und Konventionen der digitalen Musikindustrie des 21. Jahrhunderts geben können.
Vier unterschiedliche Archivierungsansätze von Medienkunst, repräsentiert durch die Initiativen sogenannter (1) Tape- Digger*innen, (2) Medienkunst-Distributor*innen, (2) Community-Archivierungsvereinen und (4) politischen Archivierungsvereinen, ermöglichen es uns, neben der Erforschung der oben genannten Produktions- und Distributionsmechanismen, tiefer in die Geschichte des Kassetten-Untergrunds in NRW einzutauchen:
Tape Digger*innen haben in den letzten zehn Jahren an Popularität gewonnen, als Künstler*innen aus verschiedensten Disziplinen begannen, Tapes aus spezifischen Subkulturen (wie der Düsseldorfer Punk-Szene oder der türkischen Volksmusik) zu sammeln und sich im Rahmen eigener musikalischer oder visueller Arbeiten, von DJ-Sets bis zu Compilations, anzueignen. Neben ästhetischen, künstlerischen und oft kommerziellen Aspekten ist mit diesem Ansatz ein erheblicher Rechercheaufwand verbunden, der die Künstler*innen zu Archivar*innen mit breitem Fachwissen macht. Die Essener Initiative Interkultur Ruhr (1) arbeitet seit mehreren Jahren mit Tape-Digger*innen zusammen und hat eine kritische Perspektive auf deren Praxis entwickelt.
Mit der Übernahme und Weiterführung der Vertriebsgeschäfte der Kölner Medienkunstagentur 235 Media fungiert die Stiftung IMAI – Inter Media Art Institute (2) gleichzeitig als Medienkunstarchiv, das die Mechanismen des Medienkunstvertriebs der späten 1970er Jahre am Leben erhält. Die meisten der Musikkassetten, die 235 Media in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren vertrieben hat, fehlen und wurden bereits lange vor der Gründung der Stiftung verkauft. Da der Kassettenvertrieb zu den ersten und aufwändigsten in NRW gehörte, halten wir es für unerlässlich, seiner Geschichte nachzugehen und seine Bedeutung einzuordnen und darzustellen.
Das Kölner Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland (3) ist ein gemeinnütziger Verein, der von Migrant*innen gegründet wurde, um eine Sammlung von Objekten und Berichten aufzubauen, die die vielfältige Geschichte der Migration in Deutschland dokumentiert. Mit dem Fokus auf soziale, kulturelle und mikrohistorische Zeugnisse hat die Institution eine beachtliche Menge an grauer Literatur, Zeitungen, Zeitschriften und Kassetten zusammengetragen, die von und für türkische Migrant*innen in Deutschland produziert wurden. Die Sichtung dieser Materialien soll spannende Einblicke in die Art und Weise geben, wie sich engagierte Gemeinschaften um verschiedene Genres der türkischen Musik in NRW entwickelten, die von traditioneller Volksmusik, Protestsongs und Schlager bis hin zu Hip-Hop reichen.
Das Duisburger Archiv für alternatives Schrifttum (4) ist ein gemeinnütziger Verein, der sich der Archivierung von Dokumenten und Publikationen neuer sozialer Bewegungen in Deutschland und insbesondere in NRW widmet. Dieses Engagement für dezentrale, lokale und alternative Geschichten hat zu einer bedeutenden Sammlung von grauer Literatur, Zeitungen, Broschüren, Flugblättern, Plakaten und Kassetten verschiedenster politischer Initiativen geführt, darunter solche von Migrant*innengruppen, Gewerkschaftsbewegungen, dem musikalischen Untergrund und der Jugendkultur. Mit einer Vielzahl von Fanzines und anderen alternativen Publikationen bietet das Archiv einen einzigartigen Einstieg in die Geschichte der alternativen Verbreitung verschiedener musikalischer Subkulturen in NRW.
Die Kombination dieser vier archivarischen Ansätze mit ihren grundlegend unterschiedlichen Erschließungsmethoden soll neue Erkenntnisse über die Entstehungsweisen und den Fortbestand verschiedener alternativer Vertriebskulturen liefern. Darüber hinaus sollen die Herausforderungen der Archivierung und des Zugangs zu subkulturellen Materialien in veralteten Medien wie Kassetten und Zeitschriften sowie in neuen Medien wie Online-Plattformen deutlich gemacht und die Besonderheiten der individuellen archivarischen Ansätze reflektiert werden. Im Anschluss an eine intensive Recherchearbeit sollen die Forschungsergebnisse zusammengefasst und präsentiert werden, um sie im Kontext weiterer wissenschaftlicher und/oder künstlerischer Beiträge zu diskutieren und zu veröffentlichen.